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Die Rolle der Epigenetik bei Suchterkrankungen

Sucht ist ein Problem der öffentlichen Gesundheit. Es handelt sich um eine polygene Störung, die am besten unter Berücksichtigung des Zusammenspiels zwischen genetischen und Umweltfaktoren verstanden wird. Eine neuere Art, diese Wechselwirkung wahrzunehmen, ist die Epigenetik, die dabei hilft, die neurobiologischen Veränderungen, die bei Sucht auftreten, zu erfassen und ihre rezidivierende Natur zu erklären. Es ist bekannt, dass jede Zelle trotz einer universellen DNA-Sequenz ihren Phänotyp unterschiedlich exprimiert. Dies gilt insbesondere für das Zentralnervensystem, wo Umweltfaktoren diese Expression beeinflussen. Obwohl die Evidenz nach wie vor rar und relativ schlecht systematisiert ist, ist sie eine vielversprechende Grundlage für die zukünftige Erforschung von Molekülen, die auf bestimmte Hirnregionen und deren Funktionen abzielen, um die bei einer Sucht beobachteten zentralen Verhaltensänderungen anzugehen. Hier ist ein interessanter Ansatz in der Suchtforschung, denn die Wechselwirkung zwischen genetischem Bauplan und Veränderungen der Expression von Genen sowie die dadurch veränderte Neurotransmitterausstattung des Individuums mittels Suchtstoffen ist der zentrale Ansatzpunkt für neue Erkenntnisse.

Einleitung

Alle genetischen Informationen sind in der DNA-Sequenz unserer Gene kodiert. Eigenschaften werden durch zufälligen Austausch von Genen auch zufällig weitergegeben. Genetische Informationen und Anweisungen sind in einer Sequenz der Nukleotide auf dem DNA-Doppelhelix-Strang in Chromosomen kodiert. Aufgrund der Länge des linearen Codes (über 2 Meter pro menschlicher Zelle) wird er um Proteinspulen (Histone) gewickelt aufbewahrt, um unter anderem Platz zu sparen.

Vererbte Gene werden aktiviert oder inaktiviert, um Zelldifferenzierung zu ermöglichen. Somit entstehen nicht die falschen Zellen am falschen Ort, obwohl dies ohne übergeordnete Kontrollinstanz nicht funktionieren würde. Zellen schalten während ihres gesamten Lebens ständig bestimmte Gene ein und aus, damit die Proteine ​​​​funktionieren, die die Zellen zum aktuellen Zeitpunkt benötigen. Deshalb sind alle Zellen an ihrem jeweiligen Ort hochspezialisiert, obwohl jede Zelle die gleiche DNA hat.

Wenn ein Gen aktiviert (sprich: abgelesen) wird, binden spezielle Proteine ​​an die DNA, lesen die dortige Buchstabenfolge und erstellen eine Einwegkopie dieser Sequenz in Form von mRNA (Transkription). Die mRNA transportiert dann die genetischen Anweisungen aus dem Zellkern zu den Ribosomen im Zytoplasma, die den Code entschlüsseln und das vom Gen spezifizierte Protein herstellen (Translation).

Epigenetische Kontrolle

Dieses Ablesen der genetischen Informationen funktioniert nur bei freiem Zugang der Hilfsproteine und Enzyme zur DNA. Mittels epigenetischer Kontrolle kann die Zelle bestimmen, welche genetischen Anweisungen ausgeführt werden, und welche nicht. Bei der epigenetischen Modifikation wird der DNA-Code nicht verändert, aber der Zugang dazu.

Wenn die DNA eng um die die Histone gewickelt ist, kann die Maschinerie der Zelle den dadurch verborgenen genetischen Code nicht ablesen. So werden spezifische Gene von beispielsweise roten Blutkörperchen abgeschaltet, wenn die Zellen zu Neuronen werden sollen.

Die Histonspule, um die sich die DNA eines bestimmten Gens windet, ist mit biochemisch markiert, vergleichbar einem molekularen ‚Post-it-Zettel‘. Dieser Marker weist andere Proteine ​​an, die relevante DNA von diesem Histon abzuwickeln und für die Transkription vorzubereiten.

Neurotransmitterhaushalt

Neurotransmitter sind spezialisierte Moleküle, die Signale zwischen Neuronen übertragen. Diese der elektrischen Reizweiterleitung innerhalb eines Neurons gegenüberstehende chemische Signalübertragung zwischen Neuronen ermöglicht es uns, zu denken, zu lernen, unterschiedliche Stimmungen zu erleben. Sollte dieses System nachhaltig gestört sein und dadurch die Neurotransmitter-Signalgebung fehlschlagen, so können an kognitiven Schwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen die Folge sein. Auch Süchte sind direkt mit dem Neurotransmitterhaushalt verbunden.

Serotonin und Dopamin sind bekannte Beispiele. Beides sind Monoamine, eine Klasse von Neurotransmittern, die an psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Sucht beteiligt sind. Serotonin hilft, die Stimmung zu regulieren; Medikamente, die als selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) bekannt sind, werden häufig verschrieben und sind zur Behandlung chronischer Depressionen wirksam. Ihr Wirkmechanismus wird auf eine Erhöhung des Serotoninspiegels im Gehirn zurückgeführt (siehe Serotonin-Hypothese der Sucht), was die Kommunikation zwischen Neuronen in denjenigen neuronalen Schaltkreisen fördert, die Stimmung, Motivation, Angst und Belohnung steuern. Eine solche Wirkweise macht Sinn, aber es ist bisher nicht ausreichend geklärt, warum es einen Monat oder länger dauert, bis diese Medikamentengruppe Depressionen lindert.

Dopamin hingegen ist ein Neurotransmitter, der in den Belohnungsschaltkreisen des Gehirns arbeitet; es produziert ein Belohnungsgefühl bis hin zur Euphorie. Fast alle Suchtmittel wie Kokain und Alkohol erhöhen den Dopaminspiegel, und diese chemisch induzierte (also extern ausgelöste) Dopaminbelohnung führt zu weiterem Verlangen (Craving) nach Drogen. Ein geschwächter Belohnungskreislauf aus unterschiedlichen Ursachen (bspw. genetisch, epigenetisch, durch psychische Erkrankung, auch Sucht) könnte eine Ursache für Sucht oder Depressionen sein, was erklären würde, warum Menschen Dopamin erhöhen, indem sie legale (Alkohol, Nikotin, Koffein) oder illegale Drogen einnehmen. Hat sich diese Erfahrung einmal bewährt, manifestiert sie sich leicht und kann bei Vorliegen weiterer Ursachen zu einer Sucht führen.

Suchterkrankungen und Epigenetik

Im Zentrum der Erforschung von Suchterkrankungen des Hirns wird auf die vielen unterschiedlichen Neurotransmitter, ihre Homöostase und das Gleichgewicht geschaut, welches durcheinander gerät, wenn eine Droge ihr Unwesen im Hirn treibt.

Es wurde festgestellt, dass drei wichtige epigenetische Prozesse an der Aufrechterhaltung einer Sucht beteiligt sind, indem sie den Zustand des Chromatins und den Grad der Gentranskription ändern:

  1. Histonmodifikation
  2. DNA-Methylierung
  3. nichtkodierende RNAs

In der Tiermodellliteratur gibt es bereits wesentliche Hinweise auf die Rolle dieser epigenetischen Veränderungen in den verschiedenen Phasen von Suchterkrankungen (substance use disorders, SUDs).

Serotoninylierung

Forschungen aus dem Jahr 2019 unter der Leitung von Neurowissenschaftler Ian Maze zeigten, dass Serotonin auch eine andere Funktion als die eines Neurotransmitters haben kann [1]Farrelly LA, Thompson RE, Zhao S, Lepack AE, Lyu Y, Bhanu NV, Zhang B, Loh YE, Ramakrishnan A, Vadodaria KC, Heard KJ, Erikson G, Nakadai T, Bastle RM, Lukasak BJ, Zebroski H 3rd, Alenina N, Bader M, … Continue reading:

Es kann als molekularer Marker fungieren. Insbesondere kann es an sog. H3-Histone binden, die die Gene steuern, die für die Umwandlung menschlicher Stammzellen in Serotonin-Neuronen verantwortlich sind. Wenn Serotonin an das Histon bindet, löst sich die DNA etwas ab und ermöglicht das Ablesen derjenigen Gene, die die Entwicklung einer Stammzelle zu einem Serotonin-Neuron bestimmen, während andere (unbenötigte) Gene ausgeschaltet werden. Es wurde zudem gefunden, dass Stammzellen, die niemals Serotonin sehen, sich in andere Zelltypen verwandeln, da das genetische Programm, um sie in Serotonin-Neuronen umzuwandeln, nicht aktiviert wird.

Dopaminylierung

Dieser Befund führte diese Arbeitsgruppe zu der Frage, ob Dopamin auf ähnliche Weise wirken könnte und die Gene reguliert, die an Drogensucht und -entzug beteiligt sind. In einem Paper im Science-Magazin vom April 2020 zeigten sie, dass dasselbe Enzym, das Serotonin an H3 bindet, auch die Bindung von Dopamin an H3 katalysieren kann – ein Prozess, der Dopaminylierung genannt wird [2]Farrelly LA, Thompson RE, Zhao S, Lepack AE, Lyu Y, Bhanu NV, Zhang B, Loh YE, Ramakrishnan A, Vadodaria KC, Heard KJ, Erikson G, Nakadai T, Bastle RM, Lukasak BJ, Zebroski H 3rd, Alenina N, Bader M, … Continue reading.

Durch die Bindung an das H3-Histon können Dopamin und Serotonin die Transkription von DNA in RNA und damit die Synthese spezifischer Proteine ​​regulieren. Hier wird die interessante Doppelrolle also Neurotransmitter wie auch als epigenetische Modulatoren sichtbar, die möglicherweise das Verständnis von Sucht verändern könnte.

Das Team untersuchten in einem ersten Schritt postmortales Hirngewebe von Kokainkonsumenten. Sie fanden eine Abnahme der Dopaminylierung von H3 im Cluster von Dopamin-Neuronen in einer Gehirnregion, die bekanntermaßen wichtig für Sucht ist: dem ventralen Tegmentalbereich (VTA).

Auch im Tiermodell wurden Untersuchungen durchgeführt: Ratten vor und nach der Selbstverabreichung von Kokain für 10 Tage. Genau wie in den Gehirnen der menschlichen Kokainkonsumenten sank die Dopaminylierung von H3 in den Neuronen im VTA der Ratten. Einen Monat nachdem den Ratten das Kokain entzogen wurde, wurde in diesen Neuronen eine viel höhere Dopaminylierung von H3 gefunden wurde als in Kontrolltieren. Dieser Anstieg könnte zur Kontrolle dienen, welche Gene ein- oder ausgeschaltet werden, die Belohnungskreisläufe des Gehirns neu zu verschalten und ein intensives Craving nach Drogen während des Entzugs auszulösen.

Letztendlich sieht es so aus, als ob mittels Dopamins nicht nur seine typische Funktion als Neurotransmitter, sondern mittels Dopaminylierung das Drogensuchtverhalten entscheidend mitbestimmen oder sogar kontrollieren kann. wie bestens bekannt ist, verändert langfristiger Kokainkonsum neuronale Belohnungsschaltkreise im Gehirn, was die Notwendigkeit einer beständigen Einnahme dieser Droge notwendig macht, damit diese Schaltkreise ’normal‘ funktionieren. Dazu müssen bestimmte Gene ein- und ausgeschaltet werden, um die Proteine ​​für diese Veränderungen zu erzeugen. Die Besonderheit hieran: dies ist ein epigenetischer Mechanismus, der durch Dopamin, das auf H3 wirkt, angetrieben wird, und keine Veränderung der DNA-Sequenz.

Ein Kokainentzug verändert die Transkription hunderter Gene, die an der Neuverdrahtung neuronaler Schaltkreise und der Veränderung synaptischer Verbindungen beteiligt sind. Bei Ratten, deren Dopaminylierung durch genetische Modifikation der H3-Histone verhindert wurde, wurden diese Veränderungen unterdrückt. Darüber hinaus setzten VTA-Neuronen weniger Dopamin frei, was zeigt, dass diese genetischen Veränderungen die Funktion des Belohnungsschaltkreises des Gehirns beeinflussten.

Epigenetische Regulation mittels Neurotransmittern

Die Entdeckung, dass Monoamin-Neurotransmitter die epigenetische Regulation von Genen kontrollieren können, ist für Forschung und Medizin von grundlegender Natur. Diese Experimente zeigten, dass die Markierung von H3 durch Dopamin die neuronalen Schaltkreise reguliert, die bei einer Sucht wirken. Die Auswirkungen gehen möglicherweise über die Sucht hinaus, da die Signalübertragung von Dopamin und Serotonin bei anderen neurologischen und psychologischen Erkrankungen eine entscheidende Rolle spielt. Denkbar wäre, dass epigenetische Markierung im Gehirngewebe von Menschen mit schwerer Depression dafür zuständig ist, dass SSRI-Antidepressiva so lange brauchen, bis sie wirken: möglicherweise aktivieren sie oben beschriebenen epigenetischen Prozess, anstatt nur das fehlende Serotonin zu erhöhen, der vermutlich Tage oder sogar Wochen braucht, bis Veränderungen sichtbar werden.

Erkenntnisse

Über den Tellerrand hinaus geschaut stellt sich die Frage, ob solche epigenetischen Veränderungen auch als Reaktion auf andere Suchtmittel wie bspw. Heroin, Alkohol und Nikotin auftreten könnten. Auf Grundlage dieser neu entdeckten epigenetischen Prozesse könnten Medikamente mit gänzlich anderem Wirkprofil entwickelt werden, nämlich der Einflussnahme auf diese epigenetischen Prozesse, und schließlich zur besseren Behandlung für viele Arten von Sucht und psychischen Erkrankungen führen.

Eine wicdhtige Erkenntnis aus dieser Forschung soll hier herausgestellt werden: Erfahrungen, die man während seines Lebens macht, könnten daran beteiligt sein, welche Gene ausgelesen werden und welche nicht. Fraglich wäre nun, ob diese Eigenschaften, die Lebewesen im Leben erworben haben, diese auch vererben können, ohne die DNA-Sequenz der Gene zu verändern. Die Forschung in diese Richtung wird sicher weitere spannende Erkenntnisse liefern.

Quellen

Quellen
1 Farrelly LA, Thompson RE, Zhao S, Lepack AE, Lyu Y, Bhanu NV, Zhang B, Loh YE, Ramakrishnan A, Vadodaria KC, Heard KJ, Erikson G, Nakadai T, Bastle RM, Lukasak BJ, Zebroski H 3rd, Alenina N, Bader M, Berton O, Roeder RG, Molina H, Gage FH, Shen L, Garcia BA, Li H, Muir TW, Maze I. Histone serotonylation is a permissive modification that enhances TFIID binding to H3K4me3. Nature. 2019 Mar;567(7749):535-539. doi: 10.1038/s41586-019-1024-7. Epub 2019 Mar 13. PMID: 30867594; PMCID: PMC6557285.
2 Farrelly LA, Thompson RE, Zhao S, Lepack AE, Lyu Y, Bhanu NV, Zhang B, Loh YE, Ramakrishnan A, Vadodaria KC, Heard KJ, Erikson G, Nakadai T, Bastle RM, Lukasak BJ, Zebroski H 3rd, Alenina N, Bader M, Berton O, Roeder RG, Molina H, Gage FH, Shen L, Garcia BA, Li H, Muir TW, Maze I. Histone serotonylation is a permissive modification that enhances TFIID binding to H3K4me3. Nature. 2019 Mar;567(7749):535-539. doi: 10.1038/s41586-019-1024-7. Epub 2019 Mar 13. PMID: 30867594; PMCID: PMC6557285.

Über den Autor

Dr. Martin Weinand

Martin hat an der Universität zu Köln das Studium der Biologie aufgenommen, weil ihn seit seiner Kindheit die Prozesse des Lebens faszinieren. Nach seiner Promotion in Biochemie und Molekularbiologie ist er Wissenschaftler und Referent für Psychoedukation und Suchtforschung an der Lifespring Privatklinik.

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